Artists At Work
Zu Besuch im Atelier
/ Roland Brockmann
to be continued...
Der breiten Öffentlichkeit begegnet Kunst vor allem in Ausstellungen von Museen. Bei bekannten Künstlern ist der Andrang dann groß. Ein kleiner, interessierter Kreis besucht sicher auch Galerien. Aber wer kennt sich schon in der aktuellen Kunstszene aus? Zeitgenössische Kunst war – anders als Film, Musik oder Literatur – nie wirklich populär. Gerade junge Maler führen ein Nischendasein; ihre Arbeit bleibt unentdeckt, wenn keine Ausstellung sie zeigt. Und wohl nie war es so schwer eine Galerie zu finden, wie in den Zeiten von Corona und den damit verbundenen Einschränkungen, wenn nicht nur Klubs oder Theater schließen, sondern auch Ausstellungsräume. Einen großen Vorteil haben die bildenden Künstler jedoch im Vergleich etwa zu Musikern oder Schauspielern: sie können weiterarbeiten. Und das im Grunde ungestörter denn je.
Ins Atelier kommen ohnehin keine Zuschauer, jedenfalls normalerweise nicht. Maler lassen sich ungern bei der Arbeit beobachten – schon gar nicht filmen oder fotografieren. So bleibt der Schaffensprozess im Dunklen, was ihm sicher auch eine gewisse Aura verleiht: Das einsame Genie vor der Leinwand sozusagen, im geschlossenen Raum, aus dem erst die fertige Abeit ans Licht der Welt gerät. Soweit das Klischee vom Künstlertyp, in dem allerdings auch Wahrheit steckt: Malerei ist eine solitäre Angelegenheit, kein Gemeinschaftswerk.
Wie also ergeht es jungen Malern in Berlin während der Pandemie? Artists At Work stellt einige von Ihnen vor, Künstler, die noch nicht am Markt etabliert sind: vom Meisterschüler bis zum Absolventen oder Autodidakten mit ersten eigenen Ausstellungen. Das Projekt zeigt sie bei ihrer Arbeit im Atelier, fragt nach dem individuellen Kunstansatz, aber auch der persönlichen Lebenssituation, nach Herausforderungen und Erwartungen. Dabei gilt das Meiste auch ohne Krisen wie Corona: Die Frage Beruf oder Berufung stellt sich im Kunstbetrieb anders als etwa bei Bankern oder Handwerkern. Originalität, Einsatz- und Risikobereitschaft werden vorausgesetzt. Dafür lockt die Chance auf Selbstverwirklichung.
Neben dem eigentlichen Malvorgang, der Auseinandersetzung mit Farbe, Form und Inhalt, geht es daher auch um die Künstlerexistenz zwischen kreativem Prekariat und Erfolg am Kunstmarkt. Welche Konzessionen soll man eingehen? Wie sehr seiner Überzeugung treu bleiben, ohne am Ende zum ewigen Überlebenskünstler zu mutieren? Fragen also, die sich den Künstlern selbst stellen. Nicht zuletzt zeigt das Projekt: Die Malerei, schon oft totgesagt, lebt – gerade in Berlin.
Universität der Künste (UDK), Berlin-Charlottenburg, Raum 146. Samstagmorgen. Hinako ist allein in dem großen hellen Atelier, das sich eigentlich fünf Schüler teilen. Jeder hat sich eine Nische eingerichtet. Hinter einem Arbeitstisch steht die junge Japanerin im grünen Overall und mischt Grundierung an. Die meisten Maler nehmen dafür fertiges Gesso. Dass Hinako nicht auf Fertigware vertraut, lieber Hasenleim als Bindemittel verrührt, verrät schon viel über ihren Ansatz: Malerei bedeutet auch immer Material.
Auch wenn man, wie Hinako Miyabayashi, malen will, „was zwischen den Dingen ist“: Ihre Bilder und Zeichnungen sind weder abstrakt noch figürlich. „Die Form erscheint zuerst“, sagt sie. Aber erst wenn auch der Inhalt vorhanden ist, sei das Werk vollständig. Kein Inhalt, den man begrifflich fassen könnte. Wenn Hinako über ihre Arbeit spricht, geht es um Zeichen, Zeit oder Licht. „Ich möchte dem Betrachter eine facettenreiche Perspektive auf die Zeit und die Zeichen der Dinge in der Spontaneität des täglichen Lebens vermitteln.“ Ein interessanter Satz, ursprünglich auf Japanisch gedacht. Und überhaupt prägt ihre Herkunft natürlich ihren Zugang zur Malerei.
Jedes Bild habe seine eigene „latente Zeit“. Und das gelte auch für die Zeit, die sie mit der Arbeit an einem Bild verbringt. Andererseits gebe es auch eine Zeit des Betrachters, die sie selbst nicht kenne. Ihre Malweise wirkt gestisch und ist doch überlegt. Immer wieder kreist der Pinsel über dem Bild, bevor er auf die Leinwand trifft - dann einen zarten Farbtupfer setzt oder mit einem Strich das Vorhandene verwischt. Manchmal wird der Pinsel einfach wieder abgelegt.
Hinako bei der Arbeit im Atelier an der Universität der Künste
Hinako Miyabayashi zeichnete schon als Kleinkind. In ihrem Heimatort besuchte sie vierzehn Jahre lang eine kleine Malschule, dann ging sie auf eine Vorbereitungsschule für Malerei, bis sie schließlich an die Kunstakademie von Tokyo kam. Vor zwei Jahren besuchte sie das erste Mal Berlin, als Austauschstudentin. Denkt man an traditionelle japanische Kunst, dann wohl zunächst an die Abwesenheit von Perspektive, weil die räumliche Tiefe allein durch Licht entsteht. Und das sei im Westen ganz anderes. „In Japan habe ich die Anwesenheit der Sonne während des ganzen Jahres nie in Frage gestellt.“ In Berlin ist sie sich dem Scheinen der Sonne bewusster geworden:
„Das Licht nachmittags im Atelier, das Licht auf der Leinwand und die Schatten, die die sich wiegenden Bäume werfen, fühlen sich an wie ein kurzer Hoffnungsschimmer in den Tagen des grauen Himmels.“ In Europa, fiel ihr auf, scheint das Licht auf Grund des niedrigen Sonnenstandes zwangsläufig länger von der Seite: „Dadurch wird die Schattenbildung verstärkt.“ Überhaupt, die langen dunklen Winternächte betonen die Bedeutung der Sonne. Als sie sich eines Morgens für die aufgehende Sonne bedankte, wurde ihr plötzlich klar, warum Weihnachten zu dieser Jahreszeit gefeiert wird, als Fest zur Feier der Wintersonnenwende, „wenn sich die Menschen nach Licht sehnen“.
Aktuelle Arbeiten: „Kissing the Bayberry“, „Snail Umbrella“ und „Paper Lamp in the Morning“
Natürlich spielt Licht auch in der westlichen Kunstgeschichte eine wichtige Rolle, wie bei Vermeer, wenn er das Licht an einem bestimmten Ort einfängt. Aber in Japan fungiert Licht als Schöpfung von Räumlichkeit und als Kontrast zur Dunkelheit, die ihre eigene Wertigkeit besitzt. Hinako spielt auf die Ästhetik des Schriftstellers Tanizaki Junichiro an, der in seinem Essay „Lob des Schattens“ Anfang des 20.Jahrhunderts vor der unkritischen Übernahme westlicher Errungenschaften warnte. In einer Zeit also, als in Japan noch Papierlaternen dominierten oder Pinsel gegenüber Füllfederhaltern. Heute, so Hinako, würde im städtischen Leben Japans die Dunkelheit verdrängt - und „die östliche Ästhetik gewissermaßen pervertiert“.
Wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Farbe bei der Malerei erst durch Licht entsteht, indem Pigmente Lichtstrahlen unterschiedlich absorbieren oder reflektieren, versteht man weshalb Hinako nicht nur die Grundierung von Hand herstellt, sondern selbst Pigmente mit Malmitteln vermengt oder mit dem Mörser verreibt. Ihre Pinselführung erinnert fast an japanische Kalligraphie. Aber natürlich folgt sie nicht der traditionellen Nihonga Malerei, die westlichen Einfluss ablehnt. Es sind moderne Künstler wie Lee Ufan und die Mono-ha (Schule der Dinge), die sie schätzt. Dabei geht es ihr um eine Art gemalte Poesie wie sie schon in den Titeln anklingt: „White Snow Lake“, „Kissing the Bayberry“ oder „Paper Lamp in the Morning“.
„White Snow Lake“, 2021, Öl auf Leinwand, 53 x 72,7 cm
FRAGEBOGEN
Wie definierst Du Dein Leben als Künstler: Beruf oder Berufung?
Ein Künstler ist ein Künstler. Ich bin fest davon überzeugt, dass dies mein Lebensinhalt ist, und ich kann mir nicht vorstellen, etwas anderes zu tun.
Wie würdest Du Deinen persönlichen Lebensentwurf beschreiben?
Ich werde weiter malen bis ich 88 Jahre alt bin, als eine starke Großmutter-Malerin. Nach meinem Abschluss möchte ich meine Arbeiten nicht nur in Japan, sondern auch im Ausland zeigen. Deshalb wil ich während meines Studiums Kontakte in Europa knüpfen und an Kurzzeitaufenthalten teilnehmen. Ich denke, dass man Orte in der Welt nur dann verstehen kann, wenn man sie besucht und ihren kulturellen Hintergrund erlebt hat.
Warum Malerei?
Ich liebe es zu zeichnen! Zeichnen ist meine Hauptmotivation. Als ich vier Jahre alt war, besuchte ich eine kleine Malschule in meiner Stadt. Dort war ich vierzehn Jahre lang, dann ging ich auf eine Vorbereitungsschule für Malerei, um an die Kunsthochschule zu kommen. Seit ich mich erinnern kann, habe ich also mit der Malerei gelebt. Als ich acht Jahre alt war, wurde ich gefragt, was ich in der Zukunft machen wolle, und ich sagte „Maler werden“, daran hat sich nichts geändert.
Wo siehst Du die Rolle von Malerei heute in der Kunst?
Malerei funktioniert sehr direkt, zum Beispiel in einer Ausstellung: Wenn ein Betrachter meine Arbeiten sieht, wird er vielleicht inspiriert. Er kann durch meine Bilderwelt wandern und auf dieser Reise neue Erfahrungen machen.
Wie politisch kann sie sein?
Wir können vielleicht nicht die Welt mit unseren Bildern verändern, aber wir können ein Gespräch beginnen. Malerei kann nationale, religiöse und geschlechtsspezifische Barrieren überwinden. Ich hoffe, dass Malerei nicht in der Welt der Kunst endet, sondern sich ausdehnen wird, um mehr von unserem Leben und von Welten außerhalb der Kunst einzubeziehen.
Beeinflusst dich die Kunstgeschichte?
In Berlin kam ich mit der Kunst und Gesellschaft Europas in Berührung, merkte, wie sehr meine Kunst durch meine Herkunft und die japanische Kunstgeschichte bestimmt ist. Hier in Berlin beobachte ich den Einfluss der westlichen Kultur auf meine Arbeit.
Siehst du dich in einer bestimmten Tradition?
Nein.
Inwieweit gibt es Vorbilder?
Da gibt es viele. Verschiedene Maler inspirieren mich zu verschiedenen Zeiten sehr unterschiedlich. Aber eine Ausstellung von Odilon Redon, die ich vor drei Jahren in Tokio gesehen habe, hat mich überrascht. Er malt die Luft, den Gott der Farben.
Woher nimmst du deine Bildideen?
Es sind die Momente, in denen Dinge, die ich im täglichen Leben für selbstverständlich halte, anders aussehen und mich überraschen.
Welche Rolle spielen dabei gesellschaftliche Entwicklungen, Politik?
Es scheint schwierig für uns zu sein, signifikante Veränderungen im aktuellen Geschehen zu erkennen. Aber bereits eine Kleinigkeit, je nach Alltag und Politik, kann uns etwas anderes spüren lassen, und wir merken es zunächst gar nicht. Erst später, in zehn oder zwanzig Jahren, werden wir das wirklich wissen.
Was bestimmt Deine Bilder: Form oder Inhalt?
Die Form erscheint zuerst. Erst wenn beides vorhanden ist, ist das Werk vollständig.
Was ist schön?
Wenn das Material, das Licht oder der Wind, also Dinge, die ich nicht kontrollieren kann, wenn alle zusammen zu einem Ausdruck führen.
Unterscheidest du zwischen abstrakt und gegenständlich?
Sowohl Abstraktes als auch Figürliches ist möglich. Es gibt keine Über- oder Unterlegenheit, nur verschiedene Arten, sie auf der Leinwand darzustellen.
Wie hast du den Corona-Lockdown erlebt?
Bis März 2020 war ich als Austauschstudentin in Berlin an der Universität der Künste (UDK). Als ich nach Japan zurückkehren musste, verbreitete sich Corona gerade auf der ganzen Welt. Damals änderten sich die Informationen jeden Tag, und das machte mich unruhig. Ich denke, das lag zum Teil daran, dass ich mich in einem fremden Land befand. Zurück in Japan war Corona erst kein so großes Thema, der Alltag war ganz normal. Der Kontrast überraschte mich total.
Konntest du weiterarbeiten, die Zeit kreativ nutzen?
Ja, die Universität in Tokyo war von April bis Juni 2020 geschlossen, aber ich konnte zu Hause an meinen Bildern arbeiten. Ich habe mich selbst herausgefordert, die Ratschläge meines Lehrers während meines Auslandsstudiums umzusetzen. Ich nahm eine Zeichnung und zeichnete sie immer und immer wieder, mit dem Ziel, die notwendigen Arbeiten und Pinselstriche auf dem Bild zu finden. Auf diese Weise wollte ich unnötige Informationen und Striche eliminieren.
Worin lag die Belastung?
Aufgrund der begrenzten räumlichen, zeitlichen und räumlichen Möglichkeiten war mein Aktionsradius manchmal eingeschränkt, aber es war auch ein guter Zeitpunkt, um mich mit meiner eigenen Arbeit auseinanderzusetzen.
Wie lief es im Lockdown mit dem Kontakt zu Galerien, Ausstellungen?
Unsere Abschlussausstellung an der Universität Tokyo konnte stattfinden. Aber es waren natürlich weniger Leute da als sonst. Und es gab insgesamt weniger Ausstellungen, an denen ich teilgenommen habe.
Hat die Pandemie deine Arbeit inhaltlich beeinflusst oder Einfluss auf deine Haltung als Künstler genommen?
Es ist schwieriger geworden, persönlich in Ausstellungen zu gehen, es gibt immer mehr Online-Ausstellungen. Ich merke wie wichtig es ist, die Werke mit eigenen Augen zu sehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ich glaube, dass in der Malerei eine Kraft steckt, die man nur verstehen kann, wenn man sie persönlich sieht, denn Malerei ist auch ein Material.
Welche grundsätzlichen Herausforderungen stellen sich Künstlern heute?
Meine persönliche Herausforderung ist, nicht nur in Japan sondern auch in Europa ausgestellt zu werden. Grundsätzlich sehe ich optimistisch in die Zukunft.
Siehst du Kunst als systemrelevant?
Ich glaube, dass die Malerei die Macht hat, die Art und Weise zu verändern, wie wir die Welt wahrnehmen. Für mich wäre eine Welt ohne Malerei sehr traurig. Ich glaube, dass das Potenzial der Malerei durchaus noch vorhanden ist.
Kontakt: Hinako Miyabayashi Instagram
Ausstellung in der „Gallery 38“ in Tokyo, 2021
Das Studio von Jann Holstein liegt in einer Maisonette-Wohnung in Berlin Charlottenburg, nahe Stuttgarter Platz. Neben einem 30-Zoll-Bildschirm steht eine wuchtige Staffelei, die auch Formate wie 2 x 3 Meter trägt. Dann ist der Raum aber auch gut ausgefüllt. Nach Werkstatt sieht es nicht wirklich aus: weiße Wandschränke, die feinen Pinsel geordnet in einem Fächersystem, die Farbe mischt der Maler auf einer Glasplatte. Sein Vater ist Gemälderestaurator, vielleicht stammt daher die Vorliebe für Akkuratesse. Auf jeden Fall hat ihn das Elternhaus früh mit Kunst in Kontakt gebracht. Unter Freunden war Graffiti angesagt. Für Jann Holstein vom Ausdruck her interessant, aber Sprayen war einfach zu ungenau. „Ich merkte, dass ich gut zeichnen kann.“ In der heimischen Werkstatt lernte er den ersten Umgang mit Ölfarben - bis heute sein Lieblingsmaterial.
Pinselstriche erkennt man auf den Bildern keine. Hauchdünn trägt Holstein die Farbe auf, bloß kein Duktus. Es geht ihm um eine Übertragung von Fotografie und Digitalem in das Medium Malerei.
Arbeiten von 2021: „John“, „Violet“ und „Masabumi“
Während Künstler früher durch die Natur oder den urbanen Raum zogen, bewegt Jann Holstein sich durch die Internetwelten. Dabei interessieren ihn Themen wie Verschwörungstheorien, Mythen oder Erzählungen: egal ob aktuelle Socialmedia- oder historische Aufnahmen. Die Bilder montiert er am PC zu digitalen Collagen. Über die Jahre hat er sich aus dem Anfangsmaterial so ein Archiv aufgebaut, auf das er zurückgreifen kann. Der Wechsel zwischen digitaler Skizze auf Photoshop und physischer Leinwand ermöglicht es dem Maler dann eine „Verbindung zwischen alten und neuen Medien“ herzustellen.
Die Collagen direkt auf die Leinwand zu übertragen wäre ihm allerdings zu eindimensional. Als Grundfläche für die gemalten Motive dienen ihm Schüttungen aus Öl- oder Wasserfarben: Durch die Schüttung, bei der das Bild flach auf dem Boden liegt, so der Maler, entstehen „Zersetzungseffekte, die an den Zerfall historischer Fotoaufnahmen erinnern“.
Die geschüttete Grundfläche wird dann nur zum Teil mit eher grellen Farben übermalt. Und dabei ist genaues Arbeiten angesagt. Denn misslungene Passagen können nicht einfach wieder entfernt oder übermalt werden - auf bereits mit Öl gemalten Flächen haften keine Wasserfarben.
Jann Holstein bei der Arbeit in seinem Atelier
Doch das ist eine handwerkliche Herausforderung. Inhaltlich stellt sich natürlich die Frage, warum als Künstler heute überhaupt noch malen, und wenn ja: was? Für Jann Holstein geht es heute mehr um individuelle Positionen und weniger um Strömungen oder Meinungsschulen. Diese Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre haben für ihn zu einer neuen Frische und Entfaltung in der Malerei geführt.
Er selbst versteht Malerei als ein „sichtbar gemachtes Nachdenken über Wirklichkeit“. So wie das Aufkommen der Fotografie die Malerei veränderte habe, sei heute der digitale Raum ein Wendepunkt: „Die tägliche Bilderflut eines jeden macht es schwieriger, Aufmerksamkeit zu erregen. Aber gerade im Gegensatz zum Bild Feed auf dem Smartphone, hat ein physisches Gemälde eine ganz andere Präsenz und Wirkung, die meiner Meinung nach durch das digitale Aufkommen noch gesteigert wurde und an Wichtigkeit gewonnen hat.“
In seiner Einzelausstellung „Emergenz“ präsentierte Jann Holstein 2021 zwei Serien über die Mondlandung sowie den Untergang der Titanic. Die Gemälde setzen sich mit der symbolischen Kraft der damaligen Ereignisbilder in den Medien auseinander, aber auch dem Versuch von Verschwörungstheoretikern und auch der breiten Bevölkerung, den Wahrheitsgehalt der Bilder in Frage zu stellen: War die Mondlandung ein Fake? Wurde die Titanic absichtlich versenkt? Die blinden Flecken von Ereignissen seien die Bereiche, so Jann Holstein, wo schon immer die Fantasie der Menschen ansetzte.
Dabei geht es dem Künstler natürlich nicht um Wahrheitsfindung, sondern Emergenz, sprich, die Möglichkeit, dass durch das Zusammenspiel seiner Elemente neue Eigenschaften und Strukturen eines medialen Systems auftauchen - oder auch: ganz neue Wirklichkeiten.
Arbeiten von 2021: „Where is this Light coming from“ und „Charlotte's Doll“
FRAGEBOGEN
Wie definierst Du Dein Leben als Künstler: Beruf oder Berufung?
In erster Linie Berufung. Kunst ohne Berufung ist viel zu unbeständig und unsicher, um es als berufliche Karriere zu wählen.
Wie würdest Du Deinen persönlichen Lebensentwurf beschreiben?
Als Künstler begibt man sich auf einen relativ unsteten und unbekannten Weg. Es wäre falsch zu leugnen, dass sich dies auch auf das restliche Leben auswirkt und eine Bereitschaft fordert damit umzugehen. Unterm Strich ist es für mich aber ein extrem spannender Lebensentwurf, für den ich gerne gewisse Opfer bringe.
Warum Malerei?
Für mich ist es das interessanteste Medium in der bildenden Kunst. Aus einer monotonen zweidimensionalen Fläche etwas zu verwirklichen, übt einen besonderen Reiz aus. Seit ich mit 16 Jahren zum ersten Mal mit Ölfarben gemalt habe, ist die Faszination der Tiefenwirkung und Pastosität bis heute geblieben. Trotz der langen Geschichte, gibt es immer noch die Möglichkeit, in diesem Medium neue Ausdrucksmöglichkeiten zu finden.
Wo siehst Du die Rolle von Malerei heute in der Kunst?
Für mich hat die Malerei eine sehr interessante Stellung in der Kunst, da Sie einerseits im Kunstbetrieb mit Abstand am stärksten vertreten ist, aber trotzdem auch am kritischsten gesehen wird. Im kunsthistorischen Dialog scheint mir aber auch eine Befreiung stattzufinden. Die alten Schlachten sind geklärt, oder haben sich verlaufen. Es geht heute mehr um individuelle Positionen und weniger um Strömungen und Meinungsschulen. Diese Entwicklungen der letzten 20 Jahre haben für mich zu einer neuen Frische und Entfaltung in der Malerei geführt, an der es aufregend ist teilzunehmen.
Wie politisch kann sie sein?
Natürlich variiert dies stark von Künstler zu Künstler, unterm Strich geht es in der Kunst immer darum zu Hinterfragen und im Betrachter etwas zu öffnen und Fragen aufzuwerfen. Im besten Fall eröffnet dies neue Horizonte und führt dazu, dass auch außerhalb der Kunst Dinge aus einer anderen Perspektive betrachtet werden. Somit ist sie auch ohne direkten politischen Inhalt politisch.
Beeinflusst dich die Kunstgeschichte?
Kunst entsteht nicht aus dem Nichts. Wir wachsen von frühster Kindheit mit Kunst auf. Das schöne ist ja, dass wir nicht alles selbst testen müssen, sondern von den Erfahrungen der Vergangenheit lernen können und darauf neue Formen aufbauen können.
Siehst du dich in einer bestimmten Tradition?
Gerade in der Ölmalerei mit seiner sehr langen Geschichte ist man natürlich automatisch in einer gewissen Tradition. Dennoch erlebe ich die letzten 10-20 Jahre als einen sehr interessanten Sprung in der Ölmalerei, da das Medium trotz, oder gerade wegen seiner Tradition neu gedacht wird. So erkennen viele in meinen Bildern nicht direkt, das es sich um Ölmalerei handelt. Auf Materialebene profitieren wir enorm von den Erfahrungen der letzten Jahrhunderte.
Inwieweit gibt es Vorbilder?
Vorbilder sind für mich sehr wichtig. Am Anfang standen hier vor allem Künstler bis zur Moderne, was auch an einer technischen Perspektive liegt, da die Beherrschung der Ölfarbe viele Jahre dauert und alte Meister, Impressionisten etc. ein wichtiger Wegweiser sind. Mittlerweile sind es größtenteils zeitgenössische Künstler (wie beispielsweise Uwe Wittwer, Wilhelm Sasnal oder Victor Mann), da es darum geht, eine eigene Formsprache zu entwickeln und wie Inhalte durch die Malerei ausgedrückt werden können. Diese wechseln aber häufig in Abhängigkeit der jeweiligen Bereiche, mit denen ich mich gerade beschäftige.
Woher nimmst du deine Bildideen?
Die Skizzen zu meiner Malerei sind häufig Collagen. Deshalb sind externe Inhalte sehr wichtig für mich. Mittlerweile finde ich diese fast ausschließlich im Internet, da die Menge an Content mit nur wenigen Klicks erreichbar ist. Inspiration findet für mich allerdings permanent statt. Diese kann sowohl durch Inhalte als auch durch Formen entstehen. Da die Malerei Zeit braucht, gibt es meistens sehr viel mehr Ideen als Zeit zur Verwirklichung. Ich musste deshalb lernen sinnvoll zu selektieren und nicht sofort alles umzusetzen. Eine Idee muss bei mir eine gewisse Zeit bestehen, bevor ich sie umsetze.
Welche Rolle spielen dabei gesellschaftliche Entwicklungen, Politik?
Aktuelle politische Themen eher wenig, mich interessieren vor allem gesellschaftliche Fragen (inklusive Politik), die nicht zeitbezogen sind, sondern solche, die immer wieder neu gestellt werden und nicht an Aktualität verlieren.
Was bestimmt Deine Bilder: Form oder Inhalt?
Die Form, allerdings gibt es in der gegenständlichen Malerei natürlich keine Form ohne Inhalt. Für mich ist ein gewisser inhaltlicher Rahmen zur Orientierung wichtig. Der Inhalt folgt hier aber dem formellen Rahmen.
Was ist schön?
„Schön“ gibt es für mich nur in der Natur, so wie ein offenes Pfauenrad vermutlich jeder schön findet. In der Kunst gibt es so etwas nicht.
Unterscheidest du zwischen abstrakt und gegenständlich?
Ja, und die Verbindung beider finde ich sehr interessant. Mich reizen besonders die Stellen, an denen nicht mehr klar ist was und ob man etwas sieht. Hier stellt sich für mich die Verbindung zum Betrachter her, da wir nicht umhin können „sehen zu wollen“.
Wie hast du den Corona-Lockdown erlebt?
Sehr skurril und seltsam, die Geschwindigkeit mit der sich fast über Nacht das gesamte und für selbstverständlich gehaltene Leben verändert hat war beängstigend. Gleichzeitig hatte es aber auch etwas Entschleunigendes, und man konnte sich auf grundlegendere Fragen besinnen, war weniger in den Details des Alltags gefangen. Für mich hat das malerisch zu einer sehr produktiven Phase geführt.
Konntest du weiterarbeiten, die Zeit kreativ nutzen?
Als bildender Künstler habe ich den Vorteil, dass ich zumindest beim Arbeiten nicht auf andere Personen angewiesen bin. Mir taten Künstler wie beispielsweise Schauspieler sehr leid, die ohne Publikum wirklich auch in ihrer Arbeit ausgebremst wurden.
Worin lag die Belastung?
Durch Ausstellungsabsagen und einem weltweiten Stillstand des Kunstbetriebes.
Wie lief es im Lockdown mit dem Kontakt zu Galerien, Ausstellungen?
Ich habe im Sommer 2019 meinen Abschluss an der UDK Berlin gemacht und war natürlich frustriert, so schnell in diese Zeit zu rutschen, die sich gerade am Anfang wie ein Stand-by anfühlte. Umso mehr freue ich mich, dass derzeit meine erste Einzelausstellung in der Karl Oskar Galerie läuft.
Hat die Pandemie deine Arbeit inhaltlich beeinflusst oder Einfluss auf deine Haltung als Künstler genommen?
Ich glaube nicht direkt, da es uns aber mit Sicherheit alle menschlich beeinflusst hat (und ich glaube es wird noch dauern, bis dies wirklich zum Vorschein tritt), fließt es mit Sicherheit auch in meine künstlerische Arbeit ein.
Welche grundsätzlichen Herausforderungen stellen sich Künstlern heute?
Kunst ist durch das Internet und Plattformen wie beispielsweise Artsy oder Instagram 24/7 erreichbar. So wichtig die Beschäftigung mit der Kunstgeschichte und aktuellen Positionen ist, darf man den Fokus auf die eigene Arbeit dabei nicht verlieren und muss für sich einen passenden Weg entwickeln.
Siehst du Kunst als systemrelevant?
Unbedingt, ich finde es interessant, dass diese Frage so stark im Diskurs war und ist. Den Menschen machen ja gerade die Dinge aus, die nicht zum bloßen Überleben notwendig sind.
Die ersten Menschen hatten sicher besseres zu tun als Höhlenwände zu bemalen, dennoch taten sie es.
Kontakt: www.jannholstein.de
Ausstellung in der Berliner Galerie Oskar, 2021
Berlin-Neukölln, zweiter Hinterhof. „Das ‘richtige’ Neukölln“, wie Amrita Dhillon gleich betont. Man spürt, sie fühlt sich wohl hier. „Vielleicht liegt es daran, dass die türkische und die arabische Lebenskultur unserer etwas ähnlich sind.“ Sie wurde in Neu-Delhi geboren, als einziges Kind einer Christin und eines Sikhs. „Religion hat in meiner Erziehung eine geringere Rolle gespielt als in vielen anderen indischen Familien – sicher auch deshalb, weil meine Eltern nicht denselben religiösen Hintergrund haben.“ Dank eines Stipendiums studierte sie vier Jahre in Upstate New York - deutsche Geschichte. Ein überraschendes Studienfach, wäre da nicht Amritas Großvater, der als Soldat der britischen Armee in deutsche Gefangenschaft geriet, in Limburg an der Lahn.
Das erklärt allerdings noch nicht, warum sie nach einem Bachelor in Geschichte jetzt im Arbeitsoverall in einem Neuköllner Atelier steht und Ölfarbe mit Terpentin mischt. Ihre Liebe zu Berlin kam 2012 bei einem Gastaufenthalt als Studentin auf. Mit ihrer akademischen Bildung war sie unzufrieden: „Ich mag Geschichte, habe auch historische Referenzen in meiner künstlerischen Arbeit, wollte aber nie wissenschaftliche Texte schreiben.“ Gemalt hat sie schon als Kind, autodidaktisch. In Berlin dann wollte sie es ernsthaft angehen, 2019 bewarb sie sich an der Universität der Künste. „Nicht primär wegen der Technik . Ich wollte vor allem den aktiven Austausch mit anderen Künstlern und Professoren.“ Nebenbei arbeitet sie in einer Galerie, das Atelier teilt sie sich mit einer Freundin.
Draußen vor der breiten Glasfront des Raums ist es dunkel geworden. Herbstwetter. Drinnen ist es hell und still. Bis Amrita ihre Musik-App startet. Plötzlich erklingen muntere Jazz-Akkorde. Bei der Arbeit hört sie am liebsten Duke Ellington oder Count Basie.
Auf einem großen Tisch liegen Zeichnungen auf Ölpapier. An der Wand hängen Arbeiten auf Leinwand. Die meisten davon fertig. Doch manchmal nimmt sie sich ein altes Bild vor, mit dem sie unzufrieden ist, und malt darauf. So wie jetzt, in breiten lasierenden Strichen mit Kobaltblau. Die Angst des Malers vor der leeren Leinwand. Und: Amrita mag das Malen in Schichten. Manchmal fängt sie mit abstrakten Hintergründen an, arbeitet dann gegenständlich weiter oder auch anders herum: „Aber nie geplant, das ist eine Sache des Instinkts, ich experimentiere gerne.“ Etwa indem sie mit Spachtel und Pinsel Terpentin auf die Leinwand spritzt, das das frische Kobaltblau in Punkten verdrängt oder Linien erzeugt, wenn es herunterläuft.
Amrita Dhillon bei der Arbeit in ihrem Atelier
Dabei gibt es inhaltliche Motive, oft bestimmt durch ihre Herkunft, nicht zuletzt aus ihrer Highschool-Zeit im Himalaya. „Mein Leben ist international – aber viele meiner wichtigsten Erinnerungen sind wie ich selbst aus Indien.“ Eine wichtige Rolle spiele hierbei neben den Menschen vor allem die Natur, die in Indien genauso farbenfroh und üppig wie gefährlich ist.
Angst vor Tieren im Wald? „Ja, genau. Denn Natur ist nicht nur etwas Schönes. Gerade im Himalaya: Überall lauern riesige Spinnen, komische Insekten. Dichte Wälder haben etwas Bedrohliches – und im Bedrohlichen liegt auch immer das Nebelhafte und Mysteriöse, das mich als Künstlerin so fasziniert.“
Aktuelle Arbeiten: „Deviants in the Night“, „Ekstase“ und „They Play Us“
Und dann ist da noch die Vergangenheit: Das Bild an dem sie gerade arbeitet, erinnert sie an die Möglichkeiten der Malerei: „Eine Erinnerung erschaffen zu können, mich dort hineinversetzen zu können, wo ich vorher nicht war.“
Vor einigen Jahren entdeckte sie ein Foto im Album ihres Großvaters. Es zeigt Verwandte irgendwann in den Siebzigern an einem sonnigen Tag in Nainital, einer kleinen Stadt im Himalaya: Ihre Mutter und deren Schwester sitzen auf einer Schaukel, rechts neben ihnen steht ihr Cousin mit einem Gewehr im Arm. Links sitzt ein lang verstorbener Onkel. Auch der Cousin ist inzwischen tot. Daher sei es für sie ein eher melancholisches Bild. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass es ihr um eine authentische Reproduktion eines Fotos auf Leinwand geht. Gefundene Fotografien oder Referenzen aus dem Kino und der Kunstgeschichte dienen der Inspiration.
Im Atelier ist inzwischen die Musik aus, hört man allein das Geräusch vom Pinsel auf der Leinwand: frische gelbe Linien im Kobaltblau über dem durchschimmernden alten Bild. Doch Amrita Dhillon ist nicht zufrieden. Mit Terpentin im Pinsel wäscht sie das Bariumgelb wieder aus.
Malerei ist Arbeit: Bei Amrita Dhillon an drei, vier Nachmittagen im Atelier und zuhause manchmal bis drei Uhr morgens. Dort habe sie weniger Platz, seien die Bilder kleiner und realistischer, weil sie detaillierter arbeite. Ihre neue Serie will sie vor allem leichter angehen, weniger verdichtet. Teile der Leinwand sollen frei bleiben: „Das wird meine neue Aufgabe.“
„Drifters“, 2021, Öl auf Leinwand, 70 x 100 cm
FRAGEBOGEN
Wie definierst Du Dein Leben als Künstler: Beruf oder Berufung?
Ich definiere mein Leben als Künstlerin am liebsten gar nicht. Ich lebe es und versuche, etwas zu hinterlassen, das Menschen etwas sagt – und sie hoffentlich in irgendeiner Weise berührt.
Wie würdest Du Deinen persönlichen Lebensentwurf beschreiben?
Als eine Mischung aus Träumerei und harter Arbeit.
Warum Malerei?
Ich bin über einen Umweg zur Malerei gekommen. Als Kind habe ich vor allem Musik gemacht, als Jugendliche wollte ich Schriftstellerin werden und in beiden Disziplinen habe ich einiges über Rhythmus und Form gelernt. Doch erst als junge Erwachsene ist mir aufgefallen, dass ich mich mit Pinsel und Farben viel besser ausdrücken und dadurch auch mehr erzählen und auslösen kann, als mit irgendetwas anderem. Außerdem bin ich einfach besessen von Farben sowie von der Mystik und Mehrdeutigkeit, die in der Malerei möglich sind. Besonders in einer Zeit, die so sprachgesteuert und digital ist wie die unsere, gibt das Malen mir die Möglichkeit, in eine irratonale, magische Welt abzutauchen.
Wo siehst Du die Rolle von Malerei heute in der Kunst?
Da, wo sie in Zeiten der Höhlenmalerei auch schon stand: nah am wärmenden Feuer und dem brodelnden Kochtopf, weit weg von der grausamen und notwendigerweise etwas vulgären Jagd.
Wie politisch kann sie sein?
So politisch und gleichzeitig so unpolitisch, wie sie will. In der Malerei ist alles erlaubt, was auf die Leinwand passt – aber im schönsten Fall überlebt ein Gemälde die aktuellen politischen Debatten seiner Zeit und löst auch viele Jahre später noch Gefühle und Gedanken bei Menschen aus. Die Freiheit der Kunst ist hart erkämpft – und ich hoffe, dass das immer so bleibt.
Beeinflusst dich die Kunstgeschichte?
Ja, sehr. Um genau zu sein: Ich bin durch einen Pflichtkurs in Kunstgeschichte während meines Bachelor-Studiums am Bard College (New York) überhaupt erst so richtig mit Kunst in Berührung gekommen. Mein Professor hat das Gemälde „Potsdamer Platz“ von Ernst Ludwig Kirchner mit einem altmodischen Overhead-Projektor an die Wand geworfen und ich war sofort verzaubert. Natürlich habe ich auch vorher schon Gemälde gesehen – aber bis zu diesem Moment habe ich sie nie wirklich betrachtet.
Siehst du dich in einer bestimmten Tradition?
Nein. Aber es gibt zwei Schulen, die ich sehr bewundere und von denen meine eigene Malerei bestimmt irgendwie inspiriert ist. Zum einen ist da der deutsche Expressionismus, dessen VertreterInnen stärker an der inneren emotionalen Wirklichkeit als an objektivem Realismus interessiert waren. Und zum anderen sind da die Musiker und Dichter aus meiner nordindischen Heimat, die über Jahrhunderte hinweg eine ganz eigene Art entwickelt haben, dem Leid ihrer Leute einen Ausdruck zu geben, der würdevoll und schön ist – eine Art Poesie der Melancholie, durch die ich mit meinem Heimatland in Verbindung bleibe, auch wenn ich Tausende Kilometer von ihm entfernt bin.
Inwieweit gibt es Vorbilder?
Ich mag es sehr, in die Gedankenwelt anderer KünstlerInnen abzutauchen, aber meine Beziehungen zu ihnen sind zu stark an bestimmte Phasen gebunden, als dass ich sie als Vorbilder bezeichnen könnte. Zu den Menschen, mit deren Kunst ich mich viel beschäftigt habe, gehören zum Beispiel Ernst Ludwig Kirchner, Amrita Sher-Gil, Walter Sickert, Peter Doig und Mamma Andersson. Aber dann gibt es auch immer wieder Phasen, in denen ich mich stärker mit der Arbeit von Regisseuren oder Autoren wie Daphne du Maurier, Alfred Hitchcock oder Raymond Carver befasse.
Woher nimmst du deine Bildideen?
Aus der alten Fotobox meiner Mutter, aus Spielfilmszenen, Romanen, Dokumentarfilmen – oder auch mal von Schnappschüssen, die ich beim Spazierengehen mache. Häufig sind es Details, welche mir erst beim zweiten Blick auffallen, die mich dann auf eine Idee bringen – z.B. die merkwürdige Körperhaltung einer Person, die im Hintergrund einer Fotografie zu sehen ist; oder ein Satz in einer Kurzgeschichte, über den ich zuerst stolpere, weil ich ihn nicht verstehe, der sich dann aber bei mir einbrennt und sich irgendwann später in etwas ganz anderes verwandelt.
Welche Rolle spielen dabei gesellschaftliche Entwicklungen, Politik?
Unterbewusst und implizit: wahrscheinlich eine ziemlich mächtige. Bewusst und explizit: meistens keine.
Was bestimmt Deine Bilder: Form oder Inhalt?
Am Anfang ist es meistens der Inhalt, der mich zu einem Bild hinzieht – je weiter das Gemälde sich entwickelt, desto ausschließlicher geht es um die Form.
Was ist schön?
Menschen, die anderen Menschen ohne Eigeninteresse helfen. F. W. Murnaus Großstadt- Darstellung in seinem Film „Sunrise“ von 1927. Der Anblick der Himalayas von meinem Gymnasium in Mussoorie – einer kleiner Stadt in Nordindien in 2.000 Metern Höhe. Das Gemälde „Brighton Pierrots“ von Walter Richard Sickert aus dem Jahre 1915. Der Beginn des Herbstes.
Unterscheidest du zwischen abstrakt und gegenständlich?
Am besten kann ich meine Sicht darauf wahrscheinlich anhand des Lichtfleckens erklären, der auf den Sari der Frau in Amrita Sher-Gils Gemälde „Sumair“ von 1936 fällt: Das Licht verwandelt das Muster des Stoffes in etwas Wildes, Abstraktes und Schemenhaftes – und doch bleibt das Gemälde insgesamt absolut figürlich. Auf dieser kleinen Fläche entsteht eine Art Tanz zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit, nach dem ich auch in meiner Malerei suche.
Wie hast du den Corona-Lockdown erlebt?
Zum Glück als sehr produktiv. Aber teilweise natürlich auch als düster und beängstigend. Vor allem der Kampf um die Existenz von den vielen GastronomInnen in meiner Kreuzberger Nachbarschaft hat mich sehr traurig gemacht.
Konntest du weiterarbeiten, die Zeit kreativ nutzen?
Ja, sehr – teilweise sogar noch besser als vorher, weil so viele andere Ablenkungsmöglichkeiten einfach weggefallen sind.
Worin lag die Belastung?
Die Belastung lag vor allem anfangs darin, sich trotz der Allgegenwärtigkeit der Pandemie auch mit anderen Themen zu beschäftigen. Ich habe versucht, nicht allzu häufig die Nachrichten zu lesen.
Wie lief es im Lockdown mit dem Kontakt zu Galerien, Ausstellungen?
Mein Gefühl war, dass Kuratoren und Ausstellungsorganisatoren sehr kreativ mit den Beschränkungen, den Einschränkungen der Pandemie umgegangen sind. Ich habe das Glück, Teil von einigen dieser Ausstellungen zu sein, die nicht nur trotz, sondern gerade wegen des Lockdowns einen ganz eigenen Reiz haben – zum Beispiel im Haus Kunst Mitte und Kunsthaus Tacheles.
Hat die Pandemie deine Arbeit inhaltlich beeinflusst oder Einfluss auf deine Haltung als Künstler genommen?
Ich glaube nein. Aber so richtig kann man das vielleicht erst im Nachhinein bewerten.
Welche grundsätzlichen Herausforderungen stellen sich Künstlern heute?
Im Kern eigentlich die gleichen, denen Künstler schon immer ausgesetzt waren: aus ihrer eigensinnigen, individuellen Sicht heraus etwas zu kreieren, das nicht nur ihren Freunden und Nachbarn, sondern im Idealfall ganz vielen Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen und mit unterschiedlichen Wissensständen etwas sagt.
Siehst du Kunst als systemrelevant?
Nein. Unsere Welt würde auch ohne Kunst weiter existieren können – es wäre nur eine sehr triste und traurige Welt.
Kontakt: www.amritadhillon.com
Ausstellung im Kunsthaus Mitte, Berlin
Der Wedding ist auch nicht mehr, was er mal war. Jedenfalls hier, wo Willem Julius Müller in einem ehemaligen Laden seine Bilder malt: an der Straßenecke ein internationaler Kindergarten, im Nachbarhaus eine Naturheilpraxis, sauber renovierte Altbaufassaden. Dabei waren es die Berliner Brachen, die ihn 2006 in die Hauptstadt zogen. In Hamburg fehlten ihm die „Leerstellen“.
Freiräume sind wichtig für den Maler. So wie bei dem Bild mit dem inmitten eines Felds abgestellten Wohnwagen. Man kann sich vorstellen, was da drinnen gearbeitet wird, auch wenn das Bild es bewusst nicht zeigt. „Bilder sollen keine Antworten liefern, sondern Fragen aufwerfen.“
Es sind solche „Nicht-Orte“, die Willem Julius Müller reizen: der stillgelegte Freizeitpark im Plänterwald, monotone Hochhausarchitektur oder auch ehemals futuristische Bauhausbauten. Aber er muss natürlich nicht selbst so wohnen. Weder im Wohnwagen noch in der Villa. Besser es bleibe eine Reflexionsebene dazwischen. „Mir ist wichtig, dass ich mir die Sache als Außenstehender anschaue.“ Mit Skizzenblock und Kamera zieht er los, auf der Suche nach lost places - zunehmend ins Umland, etwa den ehemaligen Beelitz-Heilstätten: „Orte, an denen etwas passiert ist.“ Inzwischen habe die Hälfte seiner Bilder Berlin-Bezug
Inspiriert durch Berlin: „Hammer and Dance“ und „Zero X“
Früher Ausgangspunkt seiner heutigen Arbeiten waren Ruinenfelder in Sizilien, mit denen er sich dann auch an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste (HFBK) bewarb. Das Jahr 2003. Als alle wieder malten, es an der HFBK aber keine Staffeleien mehr gab. „Die hatte man verbrannt“, sagt Willem Julius Müller, „so hat man mir das damals jedenfalls erzählt.“ In den siebziger Jahren war Malerei verpönt, alle machten Konzeptkunst. Die Entsorgung der Staffeleien war also auch ein Statement. Und als später alle wieder anfingen zu malen, blieb ihnen nur die Wand. „Bei größeren Formaten bietet sich das natürlich sowieso an“, so Müller, „und irgendwie sind Staffeleien ja auch spießig. Da fühlt man sich gleich in einem Klischee gefangen.“
Und das will der 42-Jährige auf keinen Fall. Zum Malen zieht er sich Latexhandschuhe über, damit die Finger sauber bleiben. Bloß nicht als „Malschwein“ rüberkommen, das vor der Leinwand die Sau raus lässt. Noch so ein Künstlerklischee, das so gar nicht auf ihn passt. Willem Julius Müller hat auch Jura studiert - und abgeschlossen. Neben seiner Malerei arbeitet er als Justitiar an der Kunsthochschule in Stuttgart. Das hält ihm finanziell den Rücken frei, und er kann in der Kunst „sehr frei agieren.“
Aktuelle Arbeiten: „Deep Water“ und „Typ Berlin II“
Malerei hat er bei Werner Büttner studiert, der in den Achtzigern zusammen mit Albert Oehlen „Neue figürliche Malerei“ betrieb. Büttners Ansatz war immer der Inhalt: Sozialstaatimpressionen. In seiner Klasse an der HFBK war dann einmal pro Woche Besprechung. „Durch dieses heilende Feuer“, erinnert sich Willem Julius Müller, „musste man dann gehen.“
Auch er selbst betont im Zusammenspiel von Farbe, Form und Inhalt den gegenständlichen Bezug. Aber bei ihm taucht eine übersteigerte Farbigkeit auf, die so nicht in der Natur vorkommt. „Die Farbe ist autark, steht mindestens gleichwertig zum Inhalt, und das unterscheidet mich von Büttner“. Angefangen habe zwar auch er mit Sienna gebrannt, aber je mehr man sich mit Malerei beschäftige, desto mehr öffne man seine Palette. Schließlich gehe es nicht um eine naturgetreue Darstellung der Wirklichkeit.
Gerade beschäftigt ihn die Frage des Sujets: Also löst man das stärker auf und geht mehr in die Abstraktion, steigert so auch den Verfallsprozess der Orte? „Wenn man vielleicht noch eine Fassade erkennt, die Fläche aber schon sehr abstrakt ist.“
Leute tauchen ohnehin nicht auf, nur die Überbleibsel. „Wasteland“, wie der Maler selbst es ausdrückt. Was sagt ihm Giorgio de Chirico? Müller muss lachen. „Das ist natürlich der Meister, toll, vor allem diese skurrilen Bühnenbilder. Die habe ich mir viel angeschaut. Und Licht und Schatten spielen ja auch bei mir oft eine Rolle - hartes Licht.“
Willem Julius Müller bei der Arbeit in seinem Atelier
FRAGEBOGEN
Wie definierst Du Dein Leben als Künstler: Beruf oder Berufung?
Kunst zu machen, geschieht bei mir aus einem inneren Antrieb. Das Leben als Künstler ist daher für mich auch eher Berufung als Beruf.
Wie würdest Du Deinen persönlichen Lebensentwurf beschreiben?
Wie mein Professor Werner Büttner habe ich sowohl Kunst als auch Rechtswissenschaften studiert. Heute bin ich in beiden Bereichen tätig. Als freier Künstler in Berlin und als Justiziar an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Diese beiden Extreme, die eigentlich unvereinbar scheinen, bestimmen mein Leben.
Warum Malerei?
Die (Öl-)Malerei ist für mich das Medium mit dem ich mich am besten ausdrücken kann. Kein anderes Medium ermöglicht mir, eine so persönliche und eigene Ausdrucksweise. Der Prozess des Machens steht dabei für mich im Vordergrund.
Wo siehst Du die Rolle von Malerei heute in der Kunst?
Die Malerei steht natürlich in einer sehr langen Tradition der Kunstgeschichte. Sie wurde schon vielfach tot gesagt. Aber wie wir alle wissen: „Totgesagte leben länger.„ Die Malerei kann auch noch heute noch hochaktuell sein, indem sie bestehende Sehgewohnheiten hinterfragt und Neues hervorbringt.
Wie politisch kann sie sein?
In einer Welt, die durch den digitalen Wandel immer schneller und unüberschaubarer wird, ist die Kunst wichtige Konstante und Gradmesser. Kunst muss aufrütteln, bestehende Kon-ventionen hinterfragen und neue Türen öffnen. Sie ist Teil unserer Gesellschaft und hat dadurch natürlich auch eine politische Dimension.
Beeinflusst dich die Kunstgeschichte?
Als Maler befinden wir uns in einer langen Tradition der Malerei. Wir sind Zwerge, die auf Riesen stehen. Dessen bin ich mir natürlich bewusst. Conditio sine qua non für das Kunstschaffen ist daher auch, sich der Kunstgeschichte bewusst zu sein und sich viel Kunst anzuschauen.
Siehst du dich in einer bestimmten Tradition?
Wenn ich mich irgendwo einordnen müsste, dann vielleicht in den Bereich des modernen expressiven Realismus. Der Ausgang vom realen Gegenstand ist für mich zentral. Dies schließt die Abstraktion aber natürlich nicht aus.
Inwieweit gibt es Vorbilder?
Vorbilder sind sicherlich Jan van Eyck als Meister der Ölmalerei und seinem Sinn für eine wirklichkeitsgetreue Darstellung, aber auch Caspar David Friedrich mit seinen konstruierten und gleichwohl beseelten Landschaften. Georgio de Chirico und seine „pittura metafisica“ haben mich bereits sehr früh beeindruckt. Und natürlich David Hockney als Meister der modernen Landschaftsmalerei.
Woher nimmst du deine Bildideen?
Motiv meiner Bilder ist regelmäßig die vom Menschen verlassene bzw. hinterlassene Kulturlandschaft. Mich haben solche Orte von Anfang an seit einem Auslandsaufenthalt auf Sizilien vor dem Beginn meines Studiums angezogen. Gerade im Berliner Umland wandere ich, bin mit dem Skizzenbuch und der Kamera unterwegs und entdecke solche Orte. Es ist eine Gegenüberstellung von Natur und Architektur. Jedes Bild beginnt regelmäßig mit einer Bleistiftskizze, in der ich erste Bildideen zusammenfüge.
Welche Rolle spielen dabei gesellschaftliche Entwicklungen, Politik?
Gesellschaftliche Entwicklungen und konkrete politische Ereignisse spielen dabei eher am Rande eine Bedeutung.
Was bestimmt Deine Bilder: Form oder Inhalt?
Meine Bilder sind bestimmt durch Inhalt, Farbe und Form, die miteinander im Austausch treten. Der Inhalt hat in meinen Bildern aber natürlich die zentrale Bedeutung.
Was ist schön?
Ein gelungenes Bild muss nicht unbedingt „schön“ im umgangssprachlichen Sinne sein. Es eröffnet vielmehr Abgründe und wirft Fragen auf.
Unterscheidest du zwischen abstrakt und gegenständlich?
Teil meines künstlerischen Ansatzes ist es, dass einzelne Bildflächen in die Abstraktion abrutschen und sich verselbständigen. Oft ist es so, dass ich mit einem nahezu abstrakten Bild anfange, worauf sich dann die Gegenständlichkeit sukzessive aufbaut und sich immer weiter verdichtet. Die Auseinandersetzung von Gegenständlichkeit und Abstraktion ist zentral für meine Bilder. Der Übergang kann durchaus fließend sein.
Wie hast du den Corona-Lockdown erlebt?
Der Corona-Lockdown hat einen enormen Einschnitt für den gesamten Kunstbetrieb und uns Kunstschaffende bedeutet. Die Kunstwelt stand zeitweise komplett still. Ausstellungen und Messen wurden reihenweise abgesagt. Es hatte etwas Gespenstisches, dass zeitweise fast keine Menschen mehr auf den Straßen der Metropolen zu sehen waren. Berlin wirkte in dieser Zeit wie ausgestorben.
Konntest du weiterarbeiten, die Zeit kreativ nutzen?
Obwohl der Lockdown diese erheblichen Einschnitte mit sich gebracht hat, hatte diese Zeit für mich auch einen erheblichen Freiraum für das künstlerische Schaffen zur Folge, in der ich konzentriert im Atelier arbeiten konnte und in der viele neue Arbeiten entstanden sind. In dieser Zeit ist auch mein neuer Katalog „Apokalypse als Anfang“ entstanden, der jüngst im Kerber Verlag erschienen ist.
Wie lief es im Lockdown mit dem Kontakt zu Galerien, Ausstellungen?
Es war sicherlich schwieriger, in dieser Zeit Ausstellungen zu realisieren. Meine aktuelle Einzelausstellung, die derzeit im Museum Modern Art in Hünfeld zu sehen ist, wurde daher auch auf dieses Jahr verschoben.
Hat die Pandemie deine Arbeit inhaltlich beeinflusst oder Einfluss auf deine Haltung als Künstler genommen?
In dieser Zeit sind einige Arbeiten entstanden, die das Thema der Pandemie aufgegriffen haben. So zum Beispiel das Bild „Hammer and Dance“.
Welche grundsätzlichen Herausforderungen stellen sich Künstlern heute?
Die größte Herausforderung bleibt für den Künstler die immer neue Suche nach dem Sujet. Dies ist umso schwerer in einer Zeit des „Anything goes“, in der sich Grenzen immer weiter verschieben. Aber der Umstand, dass die Suche nie endet, ist ja gerade auch das reizvolle an der Kunst.
Siehst du Kunst als systemrelevant?
Kunst ist ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft und daher natürlich auch systemrelevant. Wer will sich schon vorstellen, in einer Welt ohne Kunst zu leben? Wir alle brauchen Kunst. Auch das hat die Zeit des Lockdowns sehr deutlich gezeigt.
Kontakt: www.willemjuliusmueller.de
Ausstellung in der Galerie Conradi, Hamburg